
Wie das Land, so die Hauptstadt - diese einfache Formel könnte man beinahe zum festen Axiom des Städtetourismus erheben: Den Avenues von Paris sagt man nicht umsonst den Inbegriff des "savoir vivre" nach, Berlin ist weithin bekannt als kunterbunt mit leichtem Hang zur hippen Weltstadt und Monte Carlo schließlich wäre wohl kaum über Jahrhunderte hinweg der Sitz des Fürstenhauses geblieben ohne seine elitäre Welt der superreichen Champagnerschlürfer.
Zweifel an dieser Behauptung?
Zugegeben: Bei einer so eilig zusammengezimmerten Beweisführung ist ein kritischer Kommentar durchaus noch verständlich: In den Schmelztöpfen der großen Metropolen lässt sich schließlich immer etwas finden, was auch rein zufällig das ganze Land betrifft.
Wie gut, dass ausgerechnet meine neue "Heimat auf Zeit" Malta dann doch den letzten Kritiker zur Einsicht bringen sollte: Wer deren Hauptstadt Valletta (mit kaum mehr als 6000 Einwohnern die kleinste innerhalb der EU und nach deutschen Maßstäben kaum mehr als eine Kleinstadt!) nicht versteht, braucht es beim Rest des Inselstaats schon gar nicht erst probieren.
Die gute Nachricht sei diesem harten Urteil aber gleich mit angeschlossen: So vielschichtig die zweitälteste Stadt Maltas auch sein mag - bis jetzt hat sie noch jedes fremde Touri-Herz in Besitz genommen (ganz nebenbei gesagt auch meins). Allein das wäre dann ein erster erfolgreicher Schritt hin zum "Valletta-Durchblick". Denn in dieser Stadt geht nichts ohne Herz.
Ein kleiner Überblick gefällig? Gerne. Auch wenn diese altehrwürdige Hauptstadt wohl kaum in wenige Bloggerworte gefasst werden kann, habe ich zumindest das Unmögliche versucht - es folgen
Drei Lektionen, um Valletta (und Malta) so richtig zu verstehen

Eine Festung als Hauptstadt
Ohne Herz geht es nicht? Stimmt. Und zwar erst einmal aus ganz pragmatischen Gründen: Der Stadtkern von Maltas stolzer Hauptstadt kennt kaum eine Straße ohne steile Steigung. Regelmäßig führen klitschige Stufen den Berg der ehemaligen Ritter-Siedlung hinauf, an zahlreichen Ecken und Enden knallt die Sonne gnadenlos auf die zu Bergsteigern mutierten Besucher herab. Ja, ohne ein gesundes Herz wird es in Valletta tatsächlich sehr schwer.
Die aus stadtplanerischer Sicht ungeahnt dämliche Bauweise hat dabei einen relativ einleuchtenden historischen Grund: Für hunderte Jahre fungierte Valletta als Festungsstadt. Die Malteserritter des Johanniter-Ordens aus Jerusalem gaben der Stadt ihr heute besonders an Sommertagen verfluchtes Design. Der Schutz vor potenziellen Feinden schien den Kreuzrittern damals wichtiger zu sein als der direkte Weg vom Strand zurück in die Herberge.

1565 - eine Stadt nimmt ihren Anfang (oder: Valleta-Lektion 1)
1565 zogen die damals neu angekommenen Ritter des Ordens des Heiligen Johannes des Täufers die ersten, bis heute bestaunten, Stadtpaläste in die Höhe. Und sie brachten dem neu entstehenden Kastell die ersten zwei Dinge, ohne die ein Verständnis Vallettas kaum möglich wäre: Ihre Paläste und Kirchen.
Nirgendwo sonst auf Malta wird deutlicher, wie eng Kirchenhistorie und Zeitgeschichte auf dieser Insel verwoben sind. Die lange Herrschaft der erzkatholischen Ritter ließ Kirchen und Paläste wie Pilze aus dem Boden sprießen. Heute sind es insgesamt über 280 auf dem gesamten Staatsgebiet, sogar die ganz und gar unheilig finanzkapitalistische Börse Maltas in Valletta diente Gläubigen einst als Refugium.
Doch damit noch nicht genug: Trotz des heiligen Schwurs der Johanniter, stets sparsam zu leben, schienen goldüberzogene Paläste im Verständnis des 16. Jahrhunderts dem Gelübde nicht grundsätzlich zu widersprechen. Genauso wenig wie das übrigens für das Frequentieren von Zugehdamen galt - unter den ach so katholischen Kreuzrittern entwickelte sich das schnell zu einer gern gesehenen Zerstreuung am Wochenende.
Den "armen" Rittern sei Dank, findet sich in ganz Valletta bis heute der unermessliche Reichtum dieses Ordens. Besonders beeindruckend sind die ehemaligen "Herbergen" der einzelnen Nationen. Zu Spitzenzeiten entsandten acht Königreiche und Kaiser besonders treue Landsmänner in die Reihen der päpstlichen Malteser, die dann auf ihrer Stammesinsel in verschiedenen Herbergen untergebracht wurden. Vergleichbar mit heutigen Hostels sind diese Halbpaläste aber keineswegs: Opulenter als so mancher Königssitz recken sie bis heute ihre Köpfe über die Dächer der restlichen Stadt. Eine dieser Herbergen dient heute gar dem maltesischen Premierminister als Hauptsitz, der ehemalige Palast des jeweils aktuellen Ordensvorstehers indes wurde durch den Präsidenten der neuen Republik vereinnahmt.
Dass Sparsamkeit anno 1500 wohl weiter von der Sparsamkeit anno 2019 entfernt liegen muss als Malta von Stuttgart, wird Besuchern spätestens während des Besuchs in der mächtig protzenden St. John's Kathedrale bewusst, die kurz nach Gründung der Stadt zu Ehren des Ordensheiligen errichtet wurde. Mit ihr erschufen die Adligen der Stadt nach all den Jahren der bitteren "Armut" endlich ein weithin sichtbares Ausrufezeichen sakraler Baukunst im 16. Jahrhundert. Ein Ausrufezeichen, das bis heute nichts von seinem Protz eingebüßt hat und damit für viele Touristen der eindeutigste Beweis meiner ersten Lektion ist: Wer die Kirchen und Paläste dieser Stadt mit Ignoranz bestraft, der wird Valletta nie verstehen können.

Das Leben ist auf der Straße (oder: Valletta-Lektion 2)
Es soll Zeiten gegeben haben, da war Valletta in besonders dunklen mediterranen Nächten eine echte Gefahr für seine Bewohner. Seemänner trieben sich einst besonders gern in den eher zwielichtigen Ecken der 5000-Seelen-Gemeinde herum, suchten während ihrer kurzen Landgänge selbst die versifftesten Spelunken der Stadt auf und ließen den rauhen Wind der See mit sich durch die verwinkelten Straßen ziehen. Über Jahrhunderte hinweg bot die "Stadt der Seemänner" ihren wenigen Touristen nicht gerade das schönste Ambiente für einen romantischen Abendspaziergang.
Doch aus der einst primären Hafenstadt ist in den letzten Jahren zunehmend eine Stadt der Kultur geworden. Streng bewacht von der UNESCO behielt sie ihr historisches Gesicht, tauschte aber, spätestens seit der Nominierung zur Kulturhauptstadt Europas 2018, großzügig ihre rauhen Charakterzüge gegen deutlich weichere ein.
Die tun der Stadt sichtlich gut, heute gilt für Valletta mehr denn je: Das Leben ist da, wo die Menschen sind. In Malta verbringen die ihre Abende gern unter freiem Himmel - wo auch sonst, wenn selbst in der Nacht das Thermometer nur widerwillig auf unter 30 Grad sinkt. Wenn die greisende Sonne erst einmal am Horizont verschwindet, tut sich ein ganz anderes Malta auf als jenes, das man tagsüber in den zahlreichen Palästen bewundern kann.
Plötzlich sprechen die ohnehin schönen Straßenzüge noch eine ganz andere Sprache: Hier treffen sich Jung und Alt, Auswärtige und Einheimische, Nachteulen und Partyfans. Keiner scheint ausgeschlossen, für jeden hält das quirlige Nachtleben am Mittelmeer die geeignete Medizin bereit. Besonders einfach können gediegene Bargänger, Jazzliebhaber und Nachtspaziergänger auf ihre Kosten kommen. Aber auch für Tanzwütige, Kaffehausfreunde und Schleckmäuler beweist die Stadt einmal mehr: Wer das lebensbejahende, feierwütige Gesicht dieser Stadt nicht kennt, der wird Valletta nie verstehen können.

Die Stadt der tausend Kulturen (oder: Valletta-Lektion 3)
Es gibt ein letztes Detail, das in beinahe jeder Straße und in jedem Atemzug dieser altehrwürdigen Festung zu spüren ist, sozusagen die ultimative DNA Vallettas: Die Multikulturalität des Ortes, seine zahlreichen Sprachen, sein buntes Gemisch an Nationen und Geschichte.
Dabei ist es grundsätzlich nicht unüblich für Hauptstädte, dass unter ihrer Haut ein Potpourri an Kulturen kräftig pulsiert. Aber: Auch hier sticht Malta heraus - und das gleiche gilt auch für die Hauptstadt der Insel.
Was Malta in seiner Schmelztiegel-Variante so besonders macht`? Für mich ist es die lange Geschichte, die über Jahrhunderte hinweg multikulturell geprägt war und die Insel bis heute zu dem macht, was sie ist. Schon vor der Gründung Vallettas waren es zunächst die Phönizier, später die Römer, die das kleine Archipel im Mittelmeer als Tor nach Afrika benutzten und eifrig besiedelten. Mit den Arabern folgten die nächsten Eroberer, dann kurze Episoden der Staufer, Normannen und Spanier, bevor besagte Johanniter mit dem Aufbau Vallettas begannen.
Doch der Orden war nicht immer in der Lage, eine eigene Stadt zu errichten: Erst mit dem Grand Siege, wie der große Feldzug gegen die Osmanen im Jahr 1565 stolz von den Maltesern genannt wird, füllte sich plötzlich auch die klamme Stadtkasse der Ritter. Der überraschende Sieg gegen die arabischen Osmanen veranlasste den Orden, die Königtümer Europas eifrig zur Kasse zu bitten. Schließlich hätte man die Festung Europa erfolgreich vor dem gefürchteten Sturm der Osmanen bewahrt - allein dieses Argument schien den meisten zahlungskräftigen Adelshäusern Grund genug, tief in die Tasche zu greifen. Es war an der Zeit, die lang gehegten Träume einer eigenen großen Hafenstadt zu verwirklichen - Valletta, wie sie später nach ihrem ersten Vorsteher, dem Franzosen Jean de la Vallette, heißen sollte.
Eher weniger bekannt ist das darauffolgende französische Intermezzo Napoleons, der den unzufriedenen Ur-Maltesern 1798 zur Hilfe eilte, als die sich nicht länger durch arrogante Ritter gängeln lassen wollten. Nach wenigen Jahren übten die mutigen Malteser, auch das unverkennbar die DNA dieses Ortes, erneut den Aufstand und "importierten" sich eine neue Sprache: Die Briten statteten der Insel ihren Besuch ab, übernahmen Valletta mitsamt Umland und prägten als zweite große Welle diese bezaubernde Hauptstadt. Ihre Schaffenszeit bedeutete einen neuen wirtschaftlichen Boom, spätestens aber Mitte des 20. Jahrhunderts auch viel Ernüchterung: Hitler und Mussolini entdeckten die Insel als perfekten Militärstandort und gaben alles, um sich Valletta brutalerweise unter den Nagel zu reißen. Tausende Bomben fielen, hunderte Malteser ließen ihr Lebe, es blieb eine ganz und gar traurige Prägung der sonst so lebenslustigen Stadt: Bis heute liegt beispielsweise das einst stattliche Opernhaus in Trümmern, auch andere Paläste sind Wiederaufbauten anstatt originale Zeugen der Geschichte.
Lateinische Spracheinfärbung, arabischer Lebensstil, französischer Kulturraub, nicht zuletzt britische Architektur und englisches Lebensgefühl: Valletta ist und bleibt ein Schmelztiegel der Kulturen, ein Salattopf der Sprachen und Einstellungen. Wer durch die Straßen der Stadt wandert, dem fällt diese Besonderheit schnell auf. Auf dem Markt gibt es Spezialitäten aus aller Herren Länder, britische Telefonzellen und Denkmäler der beinahe religiös angebeteten Queen Victoria überziehen die Stadt mit britischem Charme, die Architektur erinnert an alte Ritterburgen oder verwinkelte arabische Städte und über allem liegt ein Sprachenmix, den man so selbst in Berlin selten hören würde: Gelacht, gegrölt und gefeiert wird auf Maltesisch, Englisch, Arabisch, Französisch, Deutsch... eine Liste, die damit noch lange nicht vollständig ist.
Denn eines ist mit Blick auf diese kurz umrissene Geschichte sicher: Wer die vielen Kulturen dieser Stadt nicht begreift, der wird Valletta nie verstehen können.
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Ulrike (Dienstag, 16 Juli 2019 09:05)
So schön zu lesen, das erweckt Fernweh und den Wunsch Valetta auch zu besuchen.
Rita (Donnerstag, 18 Juli 2019 14:55)
Interessant und lehrreich!