
Als die freundliche Dame an der Kasse um kurz nach 15 Uhr an diesem heißen Donnerstag in Valletta verlauten lässt, der Graf sei nun auf dem Weg, wird es mir kurz noch einmal ganz anders. Natürlich sind die Zeiten der Baronen, Grafen und Feudalherren längst in die vergilbten Passagen der adligen Familienchroniken übergegangen, auch hier auf Malta haben die wohlklingenden Namen ehemaliger Ordensritter nicht einmal den Hauch einer exekutiven Gewalt. Und trotzdem: Auf Tuchfühlung mit einem echten Grafen zu sein, der noch dazu in einem über 500 Jahre alten Haus residiert? Das lässt meine ohnehin schwitzigen Hände doch noch einmal etwas nasser werden.
Wie begrüßt man sie denn nun, die Barone dieser Welt? Was für eine Anrede wird Nicholas 9. Baron von Budach und 9. Marquis de Piro, so sein offizieller Titel, erwarten? Und wie viele Fettnäpfchen wird er mir Zeit geben, bevor er sich wieder entnervt wichtigeren Dingen zuwendet als den belanglosen Fragen eines deutschen Reisebloggers, der eher durch Zufall auf "seine" Touristenattraktion, das Casa Rocca Piccolla seiner Vorfahren, stieß?

Allesamt spinnerte Gedanken eines jungen Bücherwurms, der in seinen Teenager-Zeiten wohl zu viel Ritterliteratur verschlungen hat, wird sich wenige Minuten später herausstellen. Denn dieser Graf kommt weder real, noch im übertragenen Sinne uff'm Pferd dahergeritten - und ist noch dazu ein ausgesprochen sympathischer Zeitgenosse.
Minuten später schüttele ich zaghaft die Hand dieses fröhlich lächelnden älteren Herrn in Cordhosen, der in gemütlichen Hausschuhen und mit wachem Blick sein Gegenüber aus Deutschland taxiert. "So...what would you like to know?", beginnt er mit kristallklarem britischen Akzent das Gespräch, ohne mir Zeit für peinlich gestotterte Begrüßungsfloskeln zu geben.
Gerne nehme er sich eine Viertelstunde seiner wertvollen Zeit, um mir das zu zeigen, weswegen ich hier bin: Eine der wenigen Stadtvillen Vallettas, die die fatalen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs überlebt haben und noch heute als steinerne Relikte vom Glanz längst vergangener Zeiten berichten. Sie beherbergten Ritter und reiche Kaufleute, sahen Kriege und friedliche Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs, rauschende Feste und dunkle Bombennächte.

Eine weitere Episode ist dem Haus meines Gastgebers jedoch als Alleinstellungsmerkmal zu eigen: Als erstes, und bis heute einziges, der zahlreichen versteckten Palazzi Maltas ist es seit 1992 für das "gemeine Volk" zur Besichtigung geöffnet. Aus eigenen Mitteln finanziert die weit verzweigte Adelsfamilie bis heute jegliche Renovierungsarbeiten und vorsichtig angesetzte Restaurierungen im schmucken Inneren. Einen Teil der dafür bitter benötigten Finanzspritzen spült der Tourismus in die Kassen: Bis zu sieben Besuchergruppen am Tag werden vom hauseigenen Führungsteam durch die originalen Gemächer der Ahnen der de Piros geschleust. Eine ungeahnte Ehre, die nur wenigen zuteil wird, ist jedoch die Betreuung durch den Hausherrn selbst. Meine spontane Anfrage als Blogger am Ende der eigentlichen Führung macht das für mich überhaupt erst möglich. Im sonstigen Betrieb sind es eher prominente Gesichter, wie kürzlich die damalige Schauspielerin und heutige britische Prinzessin Meghan Markle, die in den Genuss einer "baron'schen Hausführung" kommen.

Ob Prinzession oder Blogger: Die meisten seiner Gäste führt der Baron zunächst einmal in den kristallüberzogenen Speisesaal. Am liebsten zeige er seinen Gästen hier am lebenden Beispiel, warum ihm dieser Ort so sehr am Herzen liegt, meint er. Spricht's; und geleitet mich langsamen Schrittes in den prunkvollen Speisesaal des Casa Rocca Piccolla, wie der gut versteckte Palast am unteren Ende von Vallettas Hauptstraße in betont bescheidener Weise heißt.
Seit mehreren hundert Jahren gehört er seiner Familie, den de Piros aus italienischer Abstammung. Als Kaufleute hätten diese begonnen, einen unermesslichen Reichtum mühsam aufzubauen, so erzählt es der Baron unmittelbar nachdem sich die weißgetünchte Flügeltür hinter uns schließt. Zunächst handelte man mit den Rittern des heiligen Ordens, später wechselte die Familie selbst die Seiten, durfte sich ab diesem Moment zum höchsten ritterlichen Orden der katholischen Kirche zählen. Eine Ehre, die auch dem heutigen de Piro noch zuteil wird. Seine blaublütige Linie ermöglicht ihm die Mitgliedschaft im noch verbliebenen Ritterorden der Gegenwarts-Johanniter, von denen Baron Nicholas auch im 21. Jahrhundert noch mit leuchtenden Augen schwärmt: "Ich habe vor kurzem erst gelesen, dass unser Orden in seiner Gesamtheit mehr als eine Milliarden Euro an barmherzigen Wohltaten vollbracht hat."

Die strahlende Begeisterung des Barons schwillt weiter an, wenn er seinen Gast noch tiefer ins Herz der herrschaftlichen Residenz blicken lässt. Die nächsten Flügeltüren aufstoßend, liegt er plötzlich in all seiner Pracht vor uns: Der Reichtum einer ganzen Adelsfamilie, manifestiert in Stuck an den Decken, feinsten Ölgemälden an den Wänden und allerlei dekadenten Spielereien in den unzählbaren Räumen des Casa.
"Das alles hier ist ein Stück maltesische Geschichte: Wie dieses Volk wurde, was es ist, wie die Johanniter es über Jahrhunderte hinweg geformt und zu Reichtum gebracht haben, wie ihre Kultur und
Religiosität auch die Malteser stark beeinflusst hat. Genau deswegen war es uns so wichtig, diese Räume dem maltesischen Volk und auswärtigen Besuchern gegenüber zu öffnen", berichtet Baron
Nicholas packend aus den Anfangsjahren seiner zündenden Idee, die vor allem innerhalb der Familie lange auf Widerstände traf.
"Mehr als einmal wurde mir von Verwandten gesagt, die Besucher würden doch nur alles klauen und wir würden uns selbst ein Grab schaufeln", erzählt er heute und lächelt dabei hintersinnig in sich
hinein. Für Zweifler hatte der lange in England lebende Baron noch nie viel übrig. "Meine Zeit in Großbritannien hat mir beigebracht, wie man sich trotz aller Widerstände schlau und entschieden
durchsetzt."

Mit Blick auf diese Erfolge zeigt sich gerne die Spur einer zufriedenen Miene im Gesicht des Barons, nie aber Selbstgefälligkeit. Die Nase scheint man im Hause de Piro ohnehin nicht gerne ungewohnt hoch zu halten. Die Frage, wie es sich anfühle, hunderte Besucher im Jahr durch das eigene traute Heim latschen zu sehen, beantwortet der Baron etwa mit dem schlichten Satz "It's a relief". Eine Erleichterung ist es für den Ideengeber der Touristenattraktion, nicht etwa eine liebgewonnene neue Geldquelle. Der Erlös aus dem Ticketverkauf reicht gerade so zum Decken der laufenden Kosten, Zuschüsse kann er nicht beantragen. Kein Staat hilft, nicht einmal die EU öffnet ihre reich bestückten Töpfe, um dem alten Ritteradel bei seinem Kulturprojekt unter die Arme zu greifen. Das wolle er auch nicht, gibt Baron Nicholas zu. Denn am Ende sei seine Umgebung immer noch ein "Zuhause", kein Museum, das er klammheimlich an offizielle Behörden abtreten möchte.

Noch stundenlang könnte man Baron Nicholas durch die reichlich ausstaffierten Zimmer folgen. Jedes Staubkorn erzählt für den Mann in Cordhosen seine ganz eigene Geschichte, kein Gemälde kann er ohne Kommentar vorüberziehen lassen, er schwärmt gar von weiteren "hidden collections", die kaum ein Besucher je zu Gesicht bekommen hat und noch unentdeckt in den Katakomben dieser Villa schlummern.
Inzwischen hat uns der Rundgang an der Seite des Hausherrn aber wieder, kaum merklich, ins Treppenhaus zurückgespült. Die Sonne steht schon tief, als ich mich mit einem letzten (diesmal weniger angstschweißgebadeten) Händedruck von Nicholas 9. Baron von Budach 9. Marquis de Piro verabschiede. Ja, auch nach unserer halbstündigen Begegnung fühlt sich ein Nachmittag mit dem Grafen noch fast wie ein Märchen aus 1001 Nacht an. Nun allerdings nicht mehr wegen mittelalterlicher Gruselgeschichten oder einschüchternder Namenskolonnen im Kopf - es sind schlicht die berührenden Geschichten des wissbegierigen Hausherrn, die bleibende märchenhafte Eindrücke hinterlassen.
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Ulrike (Dienstag, 23 Juli 2019 12:47)
Märchenhafter Eindruck auch für Leser aus der Ferne. �
Rita (Donnerstag, 25 Juli 2019 22:18)
Ein toller Bericht vom Besuch beim Grafen!!!