
"Wer hätte das gedacht?" muss ich mich am Ende meiner ersten Arbeitswoche in London verdutzt fragen. Wer hätte gedacht, dass ich - kaum ist der Kanal einmal überquert - auf eine Arbeitswelt treffe, die auch vom anderen Ende des Globus hätte stammen können? Dass ich in meinem ersten Auslandspraktikum auf Unterschiede treffen würde, war mir von Anfang an klar gewesen. Aber solch große? Nein, das hätte ich nicht gedacht und lässt mich auch nach meiner dritten Woche im Job noch manchmal verdutzt innehalten. Jeder Tag macht mich um eine neue Erfahrung reicher und die Welt des britischen Arbeitslebens wird nicht ärmer an Überraschungen. Zeit also, einen Rückblick zu wagen - bevor ich meine letzte Arbeitswoche starte folgen hier die drei größten Unterschiede zwischen der britischen und der deutschen Arbeitskultur.

#1: Von wegen stiff upper lip
Auf dem Festland sind die Engländer ja vielerorts als steife Gesellen verschrien, die sich ungern hinter ihre Fassade blicken lassen und betont formell im Nadelstreifenanzug durch die Gegend stolzieren. Von ganz anderen Eindrücken war da mein Praktikum geprägt: Bei "meiner" PR-Agentur in Central London sitzen ausnahmslos alle der rund 20 Mitarbeiter in zwei eng miteinander verbundenen Großraumbüros, allein das lässt die bestehenden Hierarchien schon einsacken. Hinzu kommt ein überraschend positiver Umgangston, der für das moderne Großbritannien wohl normal geworden ist: Vom Chef bis zum Praktikanten sind alle per Du miteinander, irgendeiner steht immer auf und bietet den anderen einen Tee oder Snacks an, während besonders in einer so kleinen Firma gilt: Der kurze Dienstweg ist immer der Beste - die großen und kleinen Entscheidungen des Tages werden gerne ganz entspannt in der Sofaecke besprochen. Auch bei der Kleiderwahl ist von der britischen Steifheit keine Spur, nur wenn wichtige Kundentreffen anstehen wechselt man vom mehr oder weniger legeren Kleidungsstil zum Anzug. Auch wenn sich die Entspannung sogar in der Modefrage durchschlägt, ist nicht unbedingt alles so entspannt wie es auf den ersten Blick vielleicht wirkt: Der Arbeitsdruck ist trotz aller Kollegialität immens hoch und nur weil man im Großraumbüro die meiste Zeit nah beieinander verbringt, bedeutet das lange noch keine völlig fehlerfreie Kommunikation. So hat am Ende jedes System mit seinen Fehlern und Schwächen zu kämpfen.

#2: Die Sache mit der Mittagspause
Für viele mag es wie eine Bagatelle klingen, ich aber habe (selbst mit meiner geringen bisherigen Arbeitserfahrung im Gepäck) beinahe einen Schock erlitten und möchte diesen Teil der deutsch-britischen Differenzen daher keinesfalls aussparen: Wer in diesem seltsam fremden Land nach einer Mittagessenskultur sucht, wird enttäuscht - es gibt sie nicht! Weder gibt es eine Armada an Restaurants mit ausgeklügeltem Mittagstisch-Menü, noch sieht man um Punkt 12 Uhr Grüppchen an Anzugträgern durch die Gassen eilen. Nur vereinzelt lässt sich hier eine der in Deutschland so üblichen "Mahlzeit-Gangs" beim Unsichermachen der Straßen beobachten. Wie ernährt sich der Brite dann zur Mittagszeit, mag sich der verdutzte Deutsche fragen. Vielfältig und für Kontinentaleuropäer sehr verwirrend, lautet die Antwort: Viele suchen alleine (!) eine der vielen Snack- und Sandwichbars auf, andere wärmen sich die Überreste des Abendessens in der Mikrowelle auf oder lassen sich ihr Essen vom Chinesen um die Ecke liefern. Übliche Zeiten oder festgefahrene Muster gibt es ebenso wenig wie ein kompletter "Shutdown" des Büros um die Mittagszeit. Das kann befreiend wirken, scheint aber aus deutscher Sicht auch irgendwie unheimlich. Gemeinsame Mittagessen setze man nur für Business-Meetings an, so erzählt es mir kurze Zeit nach meiner Entdeckung ein amüsierter Kollege. Was eine verkehrte Welt!

#3: Mit Bierchen in den Feierabend
Von britischer Steifheit, und wie wenig dieses Vorurteil zutrifft, hatten wir es bereits ganz am Anfang. Noch extremer fällt dieses Detail aber auf, wenn es langsam dem Wochenende entgegengeht. Als mir um kurz nach fünf (also gut eine Stunde vor Feierabend) an einem Donnerstag von einem Kollegen erstmals ein Bierchen angeboten wurde, hielt ich das für einen Scherz oder sogar einen ganz fiesen Test für Neu-Praktikanten und lehnte lachend ab. Kurze Zeit später saßen mir dann aber zu meinem Erstaunen tatsächlich drei Mitarbeiter mit Bierflasche auf dem Schreibtisch gegenüber. Dasselbe Szenario wiederholte sich am Freitagabend und führte mir vor Augen: Harte Arbeit lässt sich eben doch mit lockerer Arbeitsatmosphäre kombinieren. Besonderen Stellenwert genießen in England auch die gemeinsamen Pub-Abende zum Start ins Wochenende. Sie stellen vielleicht so etwas wie den Ersatz für die fehlende Mittagspausenkultur dar: Ist die Bürotür erst einmal ins Schloss gefallen, ziehen viele Kollegen in kleinen Grüppchen noch weiter zu einer nahe gelegenen Bar und bequatschen das Leben bei einem gemütlichen Bier. Der Andrang vor den Pubs der Umgebung zeigt, dass das keineswegs nur auf eine Handvoll Firmen zutrifft. Ich finde: Was diese Feierabend-Lockerheit angeht, darf man sich auch in Deutschland gerne noch etwas von den Briten abschauen!
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