Kabinett der britischen Kuriositäten - Folge 2: Das Parlament

Kaum ein Volk ist so bekannt für seine liebenswürdige Schrulligkeit wie die Briten. Ob Lenkräder auf der "falschen Seite", pompös zelebrierte Teekulte zur nachmittäglichen Stunde oder so manches bizarr anmutendes Event auf dem Land - der Engländer an sich ist immer und überall für eine Überraschung gut. Die flapsige Schlussfolgerung "Die spinnen die Briten", die noch von Asterix und Obelix publikumswirksam in Comicheften vertreten wurde, wäre allerdings deutlich zu kurz gegriffen: Hinter vielen der britischen Eigenheiten steckt eine beachtenswerte Geschichte, eine ganze Chronologie an driftigen Gründen oder aber zumindest eine gute Legende, die einfach erzählt werden muss. Zeit also, sich diesen angelsächsischen Liebenswürdigkeiten auf humorvolle Weise zu nähern. In meiner Miniserie geht es heute dabei um einen Ort, der ganz besondere britische Kuriositäten bereithält: Dem ältesten Parlament der Welt im Londoner Westminster Palace.  

Wiege der Demokratie: Der Westminster Palace in London.
Wiege der Demokratie: Der Westminster Palace in London.

Ein Parlament ohne Verfassung

Eines der ersten Dinge, die man als angehender Verfassungsrechtler oder studierter Politikwissenschaftler lernt, ist diese Sache mit der Verfassung. Ein Staat ohne Verfassung, so die Kurzversion moderner Staatstheorie, ist meist wenig wert, in vielen Fällen qualifiziert er sogar als waschechte Diktatur oder als eine Nation mit fragwürdiger Auslegung der Bürgerrechte. Mit so viel selbstsicherer akademischer Gelehrtheit im Rücken wirkt es tatsächlich kurios, dass sich ausgerechnet das britische Haus als ältestes Parlament der Welt in keinster Weise auf einen solchen verfassungsgebenden Text berufen kann: Kein Grundgesetz, kein heiliges Buch, nicht einmal eine wirkliche Geschäftsordnung kennt das britische System. 

Anstatt auf eine Verfassung stützen sich die beiden hohen Häuser bis heute auf eine Vielzahl an Konventionen und Gebräuchlichkeiten, angereichert um einige wenige Verträge, die tatsächlich in rechtlich bindender Weise die wichtigsten Angelegenheiten der britischen Demokratie regeln. Zweifellos zu diesen segensreichen Schriftquellen zählt auch die 1215 von König Johann unterschriebene, sogenannte Magna Carta. Ihr berühmtester Unterzeichner, der König "himself", war nie ein großer Freund des 1066 eingeführten Feudalsystems, einer Art "Demokratie der Adligen", gewesen und scherte sich wenig um die Wünsche der englischen Blaublüter. Steuern für seine zahlreichen Kriege setzte der König nach Belieben hoch oder runter (meistens aber hoch), auch sonst muss er wohl eher ein Royal aus der Kategorie "blinder Sturkopf" gewesen sein. Erst eine Revolte des Adels brachte den Landesvater zur Vernunft, mit knirschenden Zähnen unterschrieb er 1215 die ihm vorgelegte Magna Carta, die einige grundlegenden Rechte der Adligen erstmals auf Papier festhielt. Tatsächlich ist die Magna Carta ein unheimlich speziell formulierter Text, aus dessen Wortreichtum heute nur noch zwei Artikel für den Fortbestand der Demokratie von Bedeutung sein dürften: Das herrschende Staatsoberhaupt  darf seit 1215 nicht mehr beliebig Steuern erheben, ohne zuvor das Parlament um Zustimmung zu bitten, und Strafverfahren können nur noch von unabhängigen Gerichten zu Ende geführt werden. 

Das Dokument soll in den folgenden hundert Jahren noch eine wilde Wandlung durchmachen und hielt sich in den ersten Jahren seiner Existenz auch nicht sonderlich zuverlässig. Trotzdem gilt auch aus heutiger Sicht noch: Die Magna Carta stellt einen Wendepunkt in der Geschichte unserer modernen Demokratie dar - ausgerechnet die königstreuen Briten sind es, die das Rad der Demokratie damit langsam ins Rollen bringen.    

Auf ihnen saßen schon politische Schwergewichte wie Margaret Thatcher, Winston Churchill oder David Cameron: Die berühmten grünen Bänke des House of Commons.
Auf ihnen saßen schon politische Schwergewichte wie Margaret Thatcher, Winston Churchill oder David Cameron: Die berühmten grünen Bänke des House of Commons.

Ein Parlament mit Stil - oder mit endloser Exzentrik?

Mit seiner hundertjährigen Historie ist die Ansammlung der Kuriositäten im britischen Parlament allerdings noch lange nicht vervollständigt: Es müssen nicht erst Geschichtsbücher entstaubt werden, um auf unerwartet skurrile Momente zu treffen - im House of Commons werden diese im Prinzip auch in der Gegenwart mitgeliefert. Schon das Layout an sich erregt bei  Gästen aus Übersee die ersten verwunderten Blicke: Anstatt einer halbrunden Plenarsaalform, wie sie etwa im Deutschen Bundestag zu finden ist, sitzen sich Opposition und Regierungspartei hier direkt gegenüber, während sich ihre jeweiligen politischen Anführer an den hölzernen Dispatch Boxen in der Mitte des Raumes hitzige Wortgefechte liefern. 

Doch soll es im Geiste einer guten Demokratie natürlich nur bei verbal ausgefochtenen Duellen bleiben. Besonders beruhigend ist es daher, dass schon in mittelalterlichen Zeiten wertvolle Sicherheitsvorkehrungen in der wichtigsten Volkskammer des Landes vorgenommen wurden: Zwei rote Linien auf dem Teppichboden des Hauses halten die Parlamentarier beider Seiten von allzu körperlichen Debatten zurück. Außerdem liegen die Trennstriche genau zwei Schwertlängen auseinander - besonders in vormodernen Zeiten eine geradezu lebensrettende Maßnahme. Das Tragen von Schlag- und Stichwaffen ist übrigens bis heute offiziell verboten, nur der zeremonielle Sergeant at Arms, der während der Sitzungszeit symbolisch für Ordnung auf den grünen Böden des Parlaments sorgt, darf eines an der Hüfte tragen. 

Auch viele weitere Regeln unterscheiden das House of Commons, und in Vielem auch das House of Lords, von vergleichbaren Institutionen in aller Welt: Applaus darf hier keinem noch so brillanten Redner gespendet werden, stattdessen geben die Abgeordneten mit lautem Rufen ihrer zustimmenden oder ablehnenden Meinung Ausdruck. Auch bei Abstimmungen haben Schreihälse wieder einen großen Vorteil: Abgestimmt wird mit lauten Aye- oder No-Rufen. Nur wenn beide Seiten ihre Niederlage im Schreiduell nicht einsehen mögen, ruft der Vorsitzende (Speaker genannt) zur "Division". Dann bleiben allen 650 Volksvertretern acht Minuten, um zur namentlichen Abstimmung zu eilen  und einen der beiden Korridore (einer für "Aye", der andere für "No") hinter den Parlamentsbänken zu durchschreiten, wo Mitarbeiter ihre Namen niederschreiben. Das enorm eingeschränkte Zeitlimit sorgte während wichtiger Abstimmungen wohl schon für so manche  bizarre Action-Szene: Der emsige Flurfunk in Westminster erzählt sich noch heute von besonders pflichtbewussten Abgeordneten, die sich selbst im Krankenbett durch die Flure schieben ließen. Oder aber von einigen besonders bemitleidenswerten Kollegen, die es im Eifer des demokratischen Gefechts mit letzter Kraft und in allerletzter Sekunde in die Korridore schafften - sich dabei aber so manchen Fuß brachen und einige Bänder zerrten.

Auch die zahlreichen Menschenmassen, die in dutzenden Besuchergruppen täglich die Westminster Hall durchschreiten, sind ein Zeichen der Offenheit des Parlaments
Auch die zahlreichen Menschenmassen, die in dutzenden Besuchergruppen täglich die Westminster Hall durchschreiten, sind ein Zeichen der Offenheit des Parlaments

Ein Parlament für das Volk - ein Parlament ohne Blase

"Dem deutschen Volke" ist der Deutsche Bundestag gewidmet, so steht es richtigerweise in Stein gemeißelt über dem Portal des Reichstagsgebäudes. Ganz so plakativ hat es der Brite nicht gern, aber auch im Westminster Palace lässt sich bei allem königlichen Prunk das Gefühl von echter Demokratie erleben. Besonders eindrucksvoll kommt das bei der letzten Geschichte dieses zweiten britischen Kuriositätenkabinetts zur Geltung: Auch in Großbritannien kennt man "Lobbying" als einen Alltagsbegriff im parlamentarischen Alphabet - allerdings mit gänzlich anderen Konnotationen. Wer in Großbritannien "Lobbying" geht, eine gern gesehene Tätigkeit für jeden Staatsbürger egal welchen Alters, kann sich ohne Umschweife in der Vorhalle des Unterhauses melden. Ein eigens eingerichteter Schreibtisch ist dort den Lobbyisten gewidmet, die ohne vorherige Registrierung oder Anmeldung auf ein Gespräch mit ihrem Wahlkreisabgeordneten pochen können. Dieser kann den wartenden Bürgern beim Verlassen des Plenarsaals allein schon physisch schwer aus dem Weg gehen, ist aber zusätzlich noch gesetzlich verpflichtet, den geduldig Wartenden nicht irgendwann zu einer der tausenden Steinfiguren im Palace of Westminster erstarren zu lassen. Der herbeizitierte Parlamentarier wird an Sitzungstagen umgehend über den wartenden Bürger, die auch im Plural als Interessensgruppe auftreten können, informiert und muss sich ihm dann zeitnah widmen. Ist ein sofortiges Gespräch nicht möglich, so ist ihm zumindest ein Termin in den nächsten sieben Tagen zu verschaffen. Eine besonders bürgerliche Geste im sonst so hochtrabenden parlamentarischen Alltag, die in manchen Ländern leider immer noch wie ein merkwürdig postmodernes Konzept klingen dürfte - und in Großbritannien trotzdem zur über Dekaden gut bewährten Tradition geworden ist. 

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