Kaum ein Volk ist so sehr bekannt für seine liebenswürdige Schrulligkeit wie die Briten. Ob Lenkräder auf der "falschen Seite", pompös zelebrierte Teekulte zur nachmittäglichen Stunde oder so manches bizarr anmutendes Event auf dem Land - der Engländer an sich ist immer und überall für eine Überraschung gut. Die flapsige Schlussfolgerung "Die spinnen die Briten", die noch von Asterix und Obelix publikumswirksam in Comicheften vertreten wurde, wäre allerdings deutlich zu kurz gegriffen: Hinter vielen der britischen Eigenheiten steckt eine beachtenswerte Geschichte, eine ganze Chronologie an driftigen Gründen oder aber zumindest eine gute Legende, die einfach erzählt werden muss. Zeit also, sich diesen angelsächsischen Liebenswürdigkeiten auf humorvolle Weise zu nähern - in meiner neuen Miniserie, die den Gang ins "Kabinett der britischen Kuriositäten" wagt.

Turmwächter im schwarzen Gewand
Der ehrwürdige Tower of London hätte mit seiner jahrtausendealten Geschichte schon genug Eigenheiten für ein ganzes Buch zu bieten. Mit Abstand am häufigsten werden allerdings die schwarz gefiederten Wächter des britischen Nationalmonuments genannt, die tagtäglich krächzend um die Türme ihrer Heimat schweben und dabei einen dezenten Hauch von "Krabat" durchs Land wehen lassen.
Doch anders als in Ottfried Preußlers ewigem Bestseller verwandeln sich die Raben des Tower of London (Spoiler-Alarm!) nicht etwa irgendwann in die Gesellen eines zwielichtigen Müllermeisters. Statt unsichtbaren Mächten zu dienen, müssen die Raben nichts weniger leisten als Großbritannien auf ewige Zeiten vor dem sicheren Untergang zu bewahren. Den Überlieferungen nach war es Karl II., der auf Geheiß seines persönlichen Astrologen die eigentlich unerwünschten Bewohner seiner königlichen Residenz nicht etwa vertreiben ließ, sondern schlussendlich als ewige Heilsbringer am Hofe duldete. Wenn einer der fünf "Stamm-Raben" die Burg verließe, so die Legende weiter, würde der Tower of London innerhalb kürzester Zeit in sich zusammenbrechen und das gesamte Königreich mit sich in die Tiefe reißen. Aus diesem Grund lebt bis heute stets eine Sippe Raben mit gestutzten Flügeln und dem Schicksal der Nation auf den zerbrechlichen Schultern in den Höfen des Tower. Damit sie ihrer Pficht gewissenhaft nachkommen werden sie rund um die Uhr von einem kundigen Team aus zehn Tierpflegern mütterlich umsorgt. Nicht abzuhauen ist in der verschworenen Sippe der royalen Beschützer aber natürlich Ehrensache und kam daher bislang auch so gut wie nie vor. Nur ein Rabe soll einst den Frevel begangen und die Mauern des Tower hinter sich gelassen haben. Man fand ihn kurz darauf - typisch britisch - in der Nähe eines Pubs an der Themse.

Die Gurke, ein Käsehobel und die Scherbe am Londoner Sternenhimmel
Wer Gelüste auf Gewürzgurken hat, der tritt normalerweise den direkten Weg in den nächstbesten Supermarkt an. Anders liegen die Dinge aber, mal wieder, auf der anderen Seite des Kanals. Gewürzgurken findet man in Großbritannien nämlich nicht nur bei Aldi, Lidl & Co., sondern auch am Horizont der Inselhauptstadt. Londons Skyline ist bekannt für ihre monumentalen Wolkenkratzer, die dort ziemlich genau seit der Jahrtausendwende wie Pilze aus dem Boden sprießen. Aber die Gebäude stehen nicht nur für sich, mehr oder weniger ansehnlich, in der Gegend herum - sie werden in ihrer Berühmtheit auch eifrig durch die findige Londoner Bürgerschaft unterstützt. Die tendiert nämlich ebenfalls seit Jahren dazu, die kreativsten und ausgefallensten Spitznamen an ihre Aussichtspunkte zu verleihen und ist dabei so findig, dass selbst die besten Marketingagenturen keine besseren Vorschläge einreichen könnten. Im Volksmund wird in der Findungsphase meist streng nach den geometrischen Formen der neuen architektonischen Errungenschaften vorgegangen, die dann in einem zweiten Schritt assoziativ mit Alltagsgegenständen in Verbindung gebracht werden. So wird aus einem gurkenförmigen Wahrzeichen blitzschnell "The Gherkin", die nach oben hin zugespitzte Glasfront des größten Wolkenkratzers der EU handelte sich den Rufnamen "The Shard" ein und der Bürgermeister der Stadt residiert gar im wohl größten Fahrradhelm der Welt, dem etwas zierlicheren "Helmet". Um die von Stararchitekt Norman Foster 2004 fertiggestellte Gewürzgurke rankt sich nebenbei erwähnt eine weitere schöne Legende, die perfekt ins letzte freie Eck des englischen Kuriositätenkabinetts passt: Lange soll sich Foster in der Planungsphase mit der Suche nach einer geeigneten, originellen Gebäudeform für seine Baupläne geplagt haben, ehe der Geistesblitz dann doch einschlug. "Zur Gurke" kam er, wohlgemerkt einer der größten Architekturgenies unserer Zeit, schließlich in der halb gefüllten Badewanne - beim gedankenverlorenen Blick an sich herab...

Der eingelegte Admiral
Wer den Nationalstolz der Briten ein wenig besser verstehen möchte, sollte sich in London unbedingt auf den Trafalgar Square begeben, der die berühmte Schlacht von Trafalgar auf geradezu pompöse Weise zelebriert. Zentraler Bestandteil des Platzes ist die 1842 erbaute Nelson-Säule, auf deren Spitze ein gusseiserner Admiral Nelson, der gewitzte Stratege und kühle Kopf hinter dem britischen Triumph, in gekonnter Siegerpose abgebildet ist. Ihm verdanken die Briten ihre lang andauernde Seemacht, ihre jahrtausendealte Unabhängigkeit von der spanischen und französischen Krone und - ja, auch das - so manche eigentümliche Redensart, hinter der sich die folgende Legende versteckt:
Tragischerweise kam Amdiral Nelson in der Schlacht seines Lebens am Kap Trafalgar noch in den letzten Minuten des Kampfgetümmels ums Leben. Während seine Mannen an Bord wagemutig die britische Krone verteidigten und später triumphal siegten, erlag der längst Nationalheld aufgestiegene Stratege unter Deck den schweren Wunden eines vorangegangenen Nahkampfes, in dem er bis zuletzt um den Dienst an seiner geliebten britischen Heimat bemüht war. Erst nachdem das letzte spanische Schiff kapituliert hatte erfuhren alle Soldaten von der schicksalhaften Wendung ihrer glorreichen Schlacht und mussten unter bitteren Tränen die Leiche des gefeierten Anführers einsargen. Damit diese auf der langen Heimreise nicht etwa zum übelriechenden Kadaver wurde legte Nelsons Armee ihren Patron sorgsam in desinfizierenden Brandy ein, an und für sich eine geniale Idee zur Konservierung des Körpers. Umso größer war allerdings die Verwunderung bei der Öffnung des Sarges, zurück in der britischen Heimat, als dieser plötzlich gar nicht mehr bis oben hin mit Brandy gefüllt war, sondern nur noch entfernte Rückstände des teuren Schnapses aufwies. Da Admiral Nelson in seinem relativ toten Zustand eher nicht zu den ersten Verdächtigen zählte, vermutete man schnell die braven, aber durstigen Soldaten hinter der ganz besonders britischen Art, die Totenruhe eines Helden zu stören.
Im London des 19. Jahrhunderts muss die Geschichte wohl für viele Schlagzeilen gesorgt haben. Der englischen Sprache schenkte sie aber vor allen Dingen eine schöne neue Redewendung, die bis heute im Sprachgebrauch fortbesteht: Wer an einer echten Londoner Theke dem Barmann "Can you please tap the Admiral?" (=kannst du bitten den Amdiral anzapfen) zuruft, bekommt ohne irritiertes Nachfragen ein Glas Brandy oder Whiskey vorgesetzt. Mit ihm darf er dann im Stillen auf Admiral Nelson anstoßen, oder aber wie dessen Kameraden in aller (Toten)seelenruhe munter weiterzapfen lassen.

Rolltreppenfahrer von Beruf
Weinmanager, Jurist mit Professionalisierung auf internationales Seehafenrecht oder Meister im Design von modischen Hüten: Das 21. Jahrhundert kennt die mitunter kuriosesten Beruf(ungen), die man sich vorstellen kann. Nichts kommt allerdings an die Anfangszeiten des britischen U-Bahn-Systems heran, als Rolltreppenfahrer plötzlich zum neuen Trendberuf der Hauptstadt wurde. Elementarer Bestandteil der tief im Boden versteckten Tunnel war auch das ausgeklügelte System an Rolltreppen, das für ein schnelles Erreichen der Bahnsteige sorgen sollte. Das einzige Problem: Sich gemächlich fortbewegende Treppen waren eine absolute Weltneuheit, eine Ausgeburt des Teufels für manche eher konservative Inselbewohner. Folglich tat sich das neue Rolltreppensystem anfangs schwer und brauchte den Einfall eines schlauen britischen Transportexperten. Es muss ein wahrer Geistesblitz gewesen sein, der die erste Londoner Transportgesellschaft ereilte, als sie kurz nach dem Aufbau des neuen Untergrundsystems einen professionellen Rollstuhlfahrer einstellte. Der Mann demonstrierte während der Stoßzeiten tapfer den Gebrauch der neuen Erfindungen, um auch die stutzigen Briten von ihrer Effizienz zu überzeugen. Auch wenn der Mitarbeiter namenlos in die Geschichte einging, seine Errungenschaft wird ihm London wohl nie vergessen: Dank seines Einsatzes reisen auch die Briten gerne mit der Rolltreppe zur Arbeit.
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Ulrike (Montag, 11 November 2019 07:55)
Extrem unterhaltsam, ich freue mich bereits auf die Folgegeschichten �